1. Oktober 1920 – Berlin wird zur Megacity

Im Zuge der Industrialisierung war Berlin ab dem 19. Jahrhundert enorm gewachsen. Von 200.000 Einwohnern im Jahr 1800 war die Einwohnerzahl schon im Jahr 1910 auf zwei Millionen angewachsen, und das obwohl sich die Fläche der Stadt nicht verändert hatte.
Die Folge waren beengte Wohnverhältnisse, mit Zimmern die sich fünf oder mehr Menschen teilen mussten. So war es auch nicht verwunderlich, dass mehr und mehr Menschen in die umliegenden Gemeinden zogen und auch dort die Einwohnerzahlen stark anstiegen. Für die wohlhabendere Bevölkerung entstand im Südwesten von Berlin sogar ein ganzes Villenviertel.

Heinrich Zilles Werk Geburtstag von 1909 stellt den Wohnraummangel künstlerisch da

 
Der Bevölkerungsanstieg im Berliner Umland hatte auch dort massive Probleme nach sich gezogen. Schuld daran war vor allem das unkoordinierte Vorgehen der Umkreisgemeinden: Ein Berliner Lokalpolitiker sprach von „Kommunaler Anarchie“ und hatte damit nicht ganz Unrecht, schließlich gab es im Großraum Berlin neben 15 Elektrizitätsversorgern auch 60 Kanalisations-, 40 Gas- und 17 Wasserbetriebe. Allein das Verlegen eines Wasserrohres durch verschiedene Gemeindegebiete wurde zu einer Mammutaufgabe mit zig Verhandlungsstunden und Tonnen an Papierkram.
Als der parteilose Politiker Adolf Wermuth 1912, noch vor dem ersten Weltkrieg, Bürgermeister von Berlin wurde erkannte er schnell, dass dieser Zustand untragbar war und beendet werden musste.





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Wermuth war vor seinem Amt als Berliner Bürgermeister jahrzehntelang im Innenministerium des Kaiserreichs beschäftigt und half gegen alle Widrigkeiten die neue Maß- und Gewichtsordnung durchzusetzen. Lange hielten viele an den alten Werten Pfund, Zentner und Lot fest, während die neuen, noch heute verwendeten, Einheiten Gramm und Kilogramm auf Widerstand trafen.
Nachdem frühere Versuche Gemeinden nach Berlin einzugliedern nach langen Verhandlungen gescheitert waren, schien Wermuth nun also der richtige Mann zu sein um auch diese Aufgabe durchzuboxen.

Adolf Wermuth auf einem Bild aus dem Jahre 1909

 
Schon kurz nach seinem Amtsantritt unternahm Adolf Wermuth den Versuch Treptow nach Berlin zu hohlen, scheiterte aber zunächst am Widerstand des Königreichs Preußen, welches einen Staat im Staate fürchtete.
Wermuth gab aber nicht auf und sah sich durch die Krise des ersten Weltkriegs, als die Versorgungsprobleme durch die Zerstückelung der Stadt noch deutlich verschärft wurden, in seinem Vorhaben bestätigt. Er setzte die Einführung von, im gesamten Großraum Berlin gültigen, Lebensmittelmarken durch und konnte durch die sogenannten „Brotkarten“ nicht nur eine Hungersnot verhindern, sondern auch den ersten Schritt hin zu Groß-Berlin vollziehen.

 
Mit dem Schöneberger Bürgermeister Alexander Dominicus fand Wermuth einen Unterstützer um das Projekt weiter voranzubringen, schließlich hatte dieser schon 1917 den „Bürgerausschuss Groß-Berlin“ gegründet.
Eine große Chance tat sich nach Kriegsende auf, als das einst mächtige Preußen nur noch auf dem Papier existierte und Wermuth die Gunst der Stunde nutzen wollte um Groß-Berlin per Notverordnung durchzupeitschen. Doch auch die neue Staatsregierung machte ihm vorerst einen Strich durch die Rechnung, da sie den Zusammenschluss auf demokratischem Wege erreichen wollte – So war weiterhin Geduld gefragt.

 
Im März 1919 begannen die Verhandlungen über die Bildung der Megacity Berlin. Streitpunkte waren u.a. die genauen Außengrenzen, die schließlich sehr weit draußen gezogen werden konnten.
Obwohl der Zeitpunkt eigentlich günstig war gab es weiterhin erheblichen Widerstand gegen die Pläne der Vereinigung. In manchen Parlamenten kam es regelrecht zu Prügeleien und reiche Städte wie Charlottenburg wehrten sich mit Händen und Füßen gegen die Vereinigung.

 
Wermuth nutzte auch seine Bekanntschaft mit dem preußischen Staatssekretär Friedrich Freund um auf inoffiziellem Wege Einfluss auf das von Freund entworfene Groß-Berlin-Gesetz zu nehmen. Dabei billigte er u.a. den Stadtteilen eine eigene Regierung mit unabhängiger Verwaltung zu, um die Chancen beim Votum zu erhöhen. Dennoch fiel das Gesetz zweimal durch die Abstimmung der Preußischen Landesversammlung und es stand Spitz auf Knopf um den zusammenschluss der Stadt.

Die Grenzen von Berlin nach dem Zusammenschluss von 1920 haben noch heute Bestand

 
Nachdem Wermuth seinen letzten Joker zog und auf den neuen Stadttitel „Groß-Berlin“ zu Gunsten „Berlins“ verzichtete, kam es am 27. April 1920 zur dritten Abstimmung. Wäre die Entscheidung wieder negativ ausgefallen, wäre der Traum vom Zusammenschluss wohl für weitere Jahre gestorben. So aber kam das Gesetz, mit einer knappen Mehrheit von 16 Stimmen, endlich durchs Parlament und der Weg zur Megacity war frei.
Als das Gesetz am 1. Oktober 1920 in Kraft trat verdoppelte sich die Bevölkerung von Berlin auf fast 4 Millionen Einwohner. Berlin war nun, hinter London und New York, die drittgrößte Stadt der Welt. Heutzutage, allein in Anbetracht der chinesischen Megametropolen, kaum mehr vorstellbar.

 
Für den Vater von Groß-Berlin, Adolf Wermuth, ging die Geschichte weniger erfolgreich zu Ende. Nach einem Streik der Elektrizitätsarbeiter wurde der Parteilose Bürgermeister von den bürgerlichen Parteien angegriffen. Als ihn schließlich auch die Sozialdemokraten fallen ließen, trat Wermuth noch im November 1920, kurz nach Inkrafttreten des Groß-Berlin-Gesetzes, zurück.
Ins Privatleben zurückgezogen musste Wermuth einen weiteren Schicksalsschlag verkraften als seine Frau Marie 1923 starb. Danach begann er unter Zwangsvorstellungen zu leiden und soll ständig, aus Angst zu verhungern, Lebensmittel eingekauft haben. 1927 verstarb er schließlich im Alter von 72 Jahren.

 
Das Gedenken an Adolf Wermuth, der so wichtig für die Geschichte Berlins war, begann schließlich zu verblassen und auch für Berlin selbst ging die Geschichte äusserst zwiespältig weiter. Nach Hitlers Plänen zu Germania folgte die Zerstörung und schließlich die jahrzehntelange Teilung, die Berlin noch stärker zerriss als zuvor. Nach 1990 begannen erneut Grabenkriege zwischen den alten Stadtteilen und wenn man es genau nimmt, so ist Wermuths Projekt vom Zusammenschluss noch heute im Gange.
Erst 2020 zeichnete man wenigstens Wermuths Grab, auf dem Kirchhof der Schlosskirche in Berlin-Buch, als Ehrengrab aus – Ein Schritt der längst überfällig war. Als parteiloser Politiker hat er leider keine Lobby hinter sich, umso wichtiger ist es ihn nicht zu vergessen.